Der ewige Cherusker

Klappentext

Nach seinen empfindlichen Niederlagen im Jahr 15 greift Germanicus im folgenden Frühjahr erneut nach der Freiheit der Stämme. Auf der Idistawiso und am Angrivarierwall liefern sich gewaltige Heere die nächsten blutigen Schlachten. Doch der lange Krieg fordert seinen Tribut: Arminius hat mehr Feinde denn je. Seine Freunde und Fürsprecher werden weniger. Mit Marbod ringt er um die Alleinherrschaft über die Stämme. Doch einen klaren Sieger gibt es nicht. Die Götter scheinen den Nadarwinna aufgegeben zu haben. Zusätzlich höhlt eine Reihe von Intrigen Arminius` Macht nach und nach aus. Die Koalition der Rebellen zerbricht. Noch ahnt Arminius nichts von der gigantischen Dimension der Prophezeiung ... Dem Schicksal scheint am Ende niemand entrinnen zu können – oder doch? Witandi und die Hagalianer sind fest entschlossen, das Unmögliche möglich zu machen ...

 

Mit Wodan an unserer Seite


»Achtung!«, raunte Arminius. »Da kommen sie!« Er senkte sein Fernglas und deutete auf die dunklen Schatten, die sich langsam zwischen den blattlosen Zweigen des winterlich kahlen Gestrüpps abzeichneten. Arpo, der Chattenfürst, nickte und gab die Information sogleich an seinen Nachbarn weiter, während Branfreti, der Cheruskerfürst, sie in die entgegengesetzte Richtung verbreitete. Von Mund zu Mund ging der leise Ruf durch die Kette der Krieger. Diese säumten den gesamten Weg, verbargen sich hinter Büschen, Bäumen oder in flachen natürlichen Kuhlen; zumeist junge Männer mit entschlossenen Gesichtern. Die am wenigsten Kampferfahrenen unter den Chatten trugen ihr noch ungeschnittenes Haar an diesem Tag grellrot gefärbt und zu einem kriegerischen Knoten oberhalb des rechten Ohres gebunden. Es war noch gar nicht lange her, da hatten sie auf einem Thing geschworen, Haupt- und Barthaare erst dann zu schneiden, wenn sie den ersten Feind getötet und sich damit in die Phalanx der Männer des Stammes eingereiht hatten. Eherne Fingerringe signalisierten zudem, dass sie dem Kriegsgott Tiu geweiht waren. Die meisten umschlossen mit der einen Hand ihren Ger, den kurzen Wurfspieß, mit der anderen die Frame, die lange Stoßlanze, einige legten Steine in ihre Schleudern oder packten schwere Keulen. Nur die wenigsten von ihnen besaßen Beutewaffen der Römer, denn beim Sieg über Varus in den Gasitjanbargi waren sie noch Kinder gewesen. So harrten sie schweigend aus, tief geduckt und beinahe unbewegt, wie Jäger, die Wild belauerten.
Arminius schaute zufrieden die Reihen entlang. Die groß gewachsenen, meist nur mit einem Schulterumhang und Langhose bekleideten Gestalten verkörperten die nächste Generation seiner Krieger. Ihre harten und drohenden Blicke, ihre drahtig-muskulösen Arme, mit denen sie hin und wieder prüfend den Wurfspeer wogen – diese Jungmannen waren die Zukunft der Rebellion gegen Rom.
Ein wieherndes Pferd zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Der scharf bewachte, fast zweihundert Mann starke Holzfällertrupp war bloß noch einen Steinwurf entfernt und Aliso, die gewaltige Römerfestung an der Lippe, lag nur etwa eine römische Meile hinter ihnen. Sie mussten schnell und gnadenlos zuschlagen, durften sich keinen Fehler erlauben. Niemand sollte entkommen.
Arminius hob seinen rechten Arm zum vereinbarten Zeichen. Sofort brüllten dumpf und mächtig die Stierhörner auf. Im nächsten Augenblick prasselte ein Hagel von Speeren und Steinen auf die überraschten Legionäre ein, riss Reiter aus ihren Sätteln, Wagenlenker vom Kutschbock, Bewaffnete von ihren Füßen. Die vordersten Zugtiere blieben verstört stehen, als ihre Führer getroffen zu Boden sanken. Die schwere Last, die sie mit Ketten hinter sich herzogen – gewaltige, kerzengerade gewachsene Eichen für den Bootsbau –,
versperrte den Weg und komplettierte die Falle.
Der Anblick der wilden Kriegerschar versetzte die Legionäre, die Holzarbeiter und Soldaten gleichzeitig waren, in Angst und Schrecken. Trotzdem gingen sie in Verteidigungsstellung. Doch sie hatten keine Chance gegen die mehrfache Übermacht der Angreifer. Außerdem hatten diese das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Es dauerte nur Sekunden, bis der gesamte Weg von Kampfgetümmel erfüllt war. Im Nu färbte sich das winterlich gelb-grüne Gras dunkelrot.
»TIU, SIEG! TIU, SIEG!«, schrien die entsetzlich anzuschauenden Chatten. Ihr infernalisches Gebrüll und ihr grimmiger Furor ermunterten einen Gutteil der römischen Truppen, ihr Heil eher in der Flucht als im Kampf zu suchen. Doch genau das durfte nicht passieren. Aus diesem Grund hatte Arminius Befehl gegeben, dass ein Teil der Krieger im Wald versteckt blieb, um die Fliehenden zur Strecke zu bringen.
Der blitzartig durchgeführte Überfall wurde ein voller Erfolg. Nicht ein Einziger entkam dem Gemetzel. Die vor Schmerzen schreienden Verwundeten schwiegen schon bald und gesellten sich zu den Toten.
Eilig gab Arminius Anweisung, an welche Bäume die Köpfe der Anführer als Warnung anzunageln seien. Sie zerstörten die von den Römern gefällten Eichen, indem sie mit Äxten tiefe Kerben hineinhackten oder sie mit Pech bestrichen und anzündeten. Abschließend beluden sie die erbeuteten Pferde mit nützlichem Raubgut – den massiven Eisenketten, Waffen und Rüstungen der Legionäre, aber auch Werkzeug – und führten sie auf verborgenen Pfaden in den Wald.
Kurz darauf kündete der Qualm, der sich schwerfällig über die winterkahlen Baumwipfel des Bruktererwaldes erhob, den Wachposten auf den Türmen Alisos von diesem weiteren Rückschlag für die Pläne des Germanicus. Hörner erklangen und Soldaten setzten sich hastig in Bewegung, um ihren Kameraden entgegenzueilen. Arminius und seine Männer waren jedoch längst verschwunden, als ein berittener Trupp in Kohortenstärke am Ort des Geschehens eintraf.