Titel donner
Klappentext
Neue Schriftrollen

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Legion der Donnergötter

Klappentext


Nach der Entschlüsselung weiterer Schriftrollen aus Leons Nachlass entdeckt die Archäologin Astrid Warrelmann Unglaubliches darin: Dem Geheimbund der Hagalianer ist es offenbar gelungen, das Tor in die Vergangenheit erneut zu öffnen. Mit Hilfe der Hagedisen von Runenzeit, welche die Chaukin Hravan einst aufgenommen und von ihr gelernt hatten, sind die Hagalianer aufgebrochen, um als Leibgarde Arminius dessen Ermordung zu verhindern. Sie kommen gerade recht, denn Arminius, seine engsten Vertrauten, die Cherusker, und ein loses Bündnis befreundeter Stämme ziehen mit Kalaschnikow und Handgranaten bewaffnet gegen Varus und dessen Legionen in eine mörderische Schlacht. Nur Leon sieht das Unheil heraufdämmern, das die Hagalianer verheißen denn niemand kann die Vergangenheit ändern ...

 

 

Neue Schriftrollen

Der Rhythmus der Trommel glich dem menschlichen Herzschlag. Betörend monoton stimulierte er Energien und Kräfte in Skadi Brock, wie sie es vor ihrer gemeinsamen Zeit mit Hravan nicht für möglich gehalten hätte. Entrückt und doch konzentriert sangen die vier Frauen die alten Lieder dazu. Mit Gesang konnten sie die Magie genauso hervorrufen wie mit einem geübten und starken Willen. Einem Hagedisenwillen.
Ja, sie vermochten es mittlerweile sogar, die Magie in diese Welt hineinzulassen; zuerst langsam tröpfelnd, schließlich schnell fließend. Uralte, längst verloren gegangene Hagedisenkünste, gelehrt von der Chaukin Hravan, gelernt und ausgeführt von Skadi Brock und ihren Helferinnen. Die Macht jener Zauberinnen der alten Stämme lebte hier und heute fort.
Skadi setzte erneut an, intonierte den leiernden, leisen Sprechgesang in jener ausgestorbenen Sprache – mit Worten, die sie nicht verstand, aber deren Klang sie in- und auswendig kannte. Die schleppende, seltsam klagende Melodie ließ sie stets aufs Neue erschaudern. Sie konnte ihre
jahrtausendealte Tradition nur erahnen, doch die Macht, die in ihr lag, war beinahe greifbar. Die Luft schien zu flimmern, der Horizont zu verschwimmen, Geräusche erklangen gedämpfter. Sie befanden sich auf einem guten Weg – ja, einem sehr guten! Sie spürte, wie die Magie in diese Welt sickerte und ihre Kräfte verstärkte. Sie sang jetzt mit noch größerer Inbrunst, achtete dabei aber peinlich genau auf den Ablauf des Rituals.
Ein leichter Windhauch kam auf und es wurde fast unmerklich wärmer.
Plötzlich ließ jede ihrer Bewegungen die Luft um sie herum knistern. Beinahe konnte sie die funkenschlagende Energie strömen sehen. Penibel befolgte sie jede Anweisung, die sie von Hravan erhalten hatte. Das ganze Ritual folgte einer einstudierten Choreografie, die allerdings noch immer
nicht perfekt saß.
Eine der Frauen, Luna, hob plötzlich ihre Arme beschwörend gen Himmel – in einem gänzlich falschen Augenblick. Skadi blickte entsetzt zu ihr hinüber, genau wie die anderen beiden. Luna erkannte ihren Fehler sofort. Das sanfte Flimmern und Knistern verwandelte sich urplötzlich in ein bedrohliches, völlig übersteigert klingendes Kreischen. Ihr reich verzierter Stab, geschnitzt aus dem Holz einer an einer Flussquelle gewachsenen Eberesche, fiel klappernd auf die Pflastersteine. Zwischen den Frauen entstand wie aus dem Nichts ein kräftiger Sog, der sich um seine eigene Achse drehte und binnen Sekunden zur Höhe eines Hauses anschwoll. Ein bläuliches Glimmen rund um den steinernen Altar, den sie mitten auf dem Hof aufgebaut hatten und der die Himmelsscheibe barg, nahm Gestalt an. Kurz wurde es grün, verharrte einen Moment in einer eher rötlichen Nuance und erlosch dann fast vollständig wieder zu trübem Grau. Die Frauen sahen mit schreckgeweiteten Augen an dem Ungetüm hoch. Es zerrte und zog an ihnen, wirbelte bereits den ersten Staub und Blätter vom Boden auf.
Lunas purpurfarbenes Batikkleid wirkte jetzt so aschfahl wie ihre Miene. Die energiegeladene Luft hatte ihre wolligen Locken wirr in alle Richtungen abstehen lassen, während ihr Mund immer noch wie von selbst den einstudierten Gesang intonierte. Aus dem winzigen, stetig weiter in sich zusammenfallenden Glimmen zuckte plötzlich eine Stichflamme zu ihr herüber. Luna schrie auf und stolperte einige Schritte zurück. Die Flamme wurde länger und länger, schien nach ihr zu greifen. Die Hagedise brach zusammen und der Sog sowie die Flamme mit ihr. Trockenes Laub und Dreck rieselten leise zu Boden.
Skadi unterbrach das Ritual mit einem Gesichtsausdruck, aus dem Wut und blank liegende Nerven sprachen. »Verflucht! Bringen wir sie rein, na los! Bei der Muttergöttin – wenn wir so weitermachen, werden wir es nie rechtzeitig schaffen!«
Sie blickte in den dämmernden Himmel, der sich im Westen zunehmend mit schwarzen Wolken verdüsterte. Schon fielen die ersten schweren Tropfen. Zu gern hätte sie Hravan zur Unterstützung hier gehabt. Lebhaft erinnerte sie sich an den Tag, als ihnen vor vielen Jahren die knorrige Thiokwala am Osterdeich direkt an der Weser in Bremen aufgefallen war. An jedem sonnigen Nachmittag entdeckten sie die alte Chaukin, die zerlumpt und ziellos zwischen den Sonnenhungrigen auf der grünen Wiese umherirrte. Skadi und die schottischstämmige Moira hatten damals einen kleinen Laden mit Esoterikartikeln, Räucherstäbchen und Runenamuletten betrieben und sich eine ausgedehnte Mittagspause gegönnt. Sie hielten die Alte zuerst für eine Bettlerin, aber ihre Kleidung, ihr seltsam verwittertes Aussehen und letztlich die mysteriösen Tätowierungen auf ihrer Haut hatten sie dazu verleitet, sie mitzunehmen.
Was folgte, war an Unglaublichkeit kaum zu überbieten. Denn wie sich herausstellte, war sie eine Runenkundige aus einer längst vergessenen Vergangenheit. Und sie war in ihre Welt gekommen, um einen haarsträubenden Auftrag zu erfüllen. Sie hatten die Alte mit Nahrung versorgt, von ihr gelernt und sie zwischen Fahrenhorst und Bremen hin und her kutschiert, bis sie eines Tages einfach wieder verschwunden war.
Doch Thiokwala hatte nachhaltig Eindruck auf die Frauen gemacht. In ihrer Zeit bei ihnen heilte sie Gebrechen durch Handauflegen, sah Dinge, die sie unmöglich wissen konnte, gab ihnen eine bislang ungeahnte Kraft und Energie. Und sie schnitzte ihnen Runenamulette, die nicht einfach nur aus einem Stück Holz mit einem Zeichen darauf bestanden. Ihre Amulette bewirkten etwas.
In der Folge fingen sie an, sich mit Runenmagie zu beschäftigen, und sie erlernten ihre Herstellung von der alten Hagedise. Schon bald verkauften sie die Dinger wie verrückt in ihrem Laden, später auch im Internet. Nachdem sich die Wirkung der »Runenzeit«-Amulette herumgesprochen hatte, rissen sie ihnen die Leute fast aus der Hand. Und dann hatte plötzlich Hravan vor ihrer Tür gestanden – sie konnten ihr Glück kaum fassen.
Auf Grundlage des von Thiokwala Gelernten bauten sie ihre Kenntnisse in der Runenmagie weiter aus. Sie fuhren mit ihr sogar in den Harz, um konzentriert und zurückgezogen alles zu lernen, was sie über Pflanzen, Steine, fließendes Wasser und die Geister wissen mussten. Und über die Runen. Viola und Luna stießen zu ihnen. Die vier genossen so etwas wie eine Ausbildung – nur dass nie zuvor jemand davon gehört hatte. Sie wurden zu Zaunreiterinnen, Wanderinnen zwischen den Welten, Beschwörerinnen der uralten Kräfte, die den Seelen aller Dinge innewohnten. Hagedisen.
Hravans Ziel war klar: Ihr ging es darum, den Nadarwinna, den Schlangenkämpfer und Weltenretter aus der Zukunft, in ihre Welt zu holen. Dort sollte er das drohende Schicksal des Untergangs der letzten freien Stämme abwenden. Aus ihrer Sicht konnte es folglich nicht schaden, auch in der Welt des Nadarwinna ein paar Frauen ihres Schlages zu wissen. Aber das Schicksal der Stämme abzuändern entpuppte sich als äußerst schwierig. Allein der Nadarwinna reichte offenbar nicht aus, er
brauchte auch Waffen, viele Waffen, um sich der Übermacht der gepanzerten und bis an die Zähne bewaffneten Soldaten aus dem Römischen Imperium erwehren zu können. Und er wurde von vielen Seiten bedroht, brauchte also Schutz.
Zu der Zeit litt Moiras Bruder Malcolm, seit vielen Jahren in der französischen Fremdenlegion tätig und Berufssoldat durch und durch, an einem unheilbaren Hirntumor. Die Ärzte hatten ihn bereits aufgegeben, ihm blieben nur noch wenige Monate zu leben. In einem letzten Akt der Verzweiflung brachte Moira den hoffnungslosen Fall zu Hravan. Malcolm hatte jegliche Hoffnung verloren, betrank sich regelmäßig und verprasste sein Geld. Niemand glaubte mehr an seine Rettung. Doch Hravan gelang das Unmögliche: Nur mit Hilfe des kleinen krummen Zweiges einer Wildkirsche besprach sie ihn unermüdlich. Malcolm ging es von Sitzung zu Sitzung besser, der Tumor schrumpfte, seine Alkoholsucht heilte, bis er schließlich völlig wiederhergestellt war. Die Ärzte sprachen von einem unerklärlichen Wunder und wollten ihn zu diversen Untersuchungen bei renommierten Spezialisten in der ganzen Welt schicken, um diesen Fall intensiv zu beleuchten und zu dokumentieren. Doch Malcolm Whaley lehnte ab. Er wusste, wer ihn geheilt hatte, und das reichte ihm. Er schwor auf sein Leben, dass er nunmehr in der Schuld der alten Hagedise stünde und sie über ihn verfügen könne. Hravan ließ sich auch nicht lange bitten und nannte ihm sogleich ihren Preis. Er müsse eine Reise antreten, von der er wohl nie zurückkehren würde. Am Zielort sollte er die Leibgarde für einen einzelnen Mann sein, dessen Leben er beschützen müsse: Arminius.
Whaley willigte ein und stellte keine Fragen. Seitdem hatte er sich vorbereitet, seinen Körper trainiert und gestählt, sich im Schwertkampf ausbilden lassen, Ausrüstung beschafft, Reiten gelernt, ein paar Männer seines Vertrauens rekrutiert, die ihn begleiten würden. Männer, die von dieser Welt nichts mehr außer Ärger zu erwarten hatten und dankbar eine letzte Chance annahmen.
Fortan nannten sich die neuzeitlichen Hagedisen sowie die baldigen Leibgardisten des Arminius »Hagalianer«, nach der Schicksalsrune Hagalaz – war es doch das Schicksal selbst, das sie herausforderten.
Sie alle bereiteten sich auf die kommende Tagundnachtgleiche vor, die kurz bevorstand.
Zusammen packten die Frauen Luna an Armen und Beinen und brachten sie ins Innere des Haupthauses der alten Hofstelle. In einem der zahlreichen Zimmer legten sie die Bewusstlose vorsichtig auf ein Sofa.
»Hol bitte Riechsalz, Moira«, bat Skadi.
Die Angesprochene ging sogleich hinüber zu einem antiken Bauernschrank, der mit großzügigen handgeschnitzten Ornamenten reich verziert war, und öffnete eine kleinere Tür. Sofort entströmte ihr ein würzigherber Duft nach Kräutern, Erde und Holz. Sie streckte den Arm aus und griff zielsicher zwischen Unmengen von kleinen Päckchen und Beuteln nach einem Fläschchen.
Die zierliche Frau zählte bereits über vierzig Jahre, war dabei aber schlank und beweglich geblieben wie eine junge Katze. Der Wind hatte auch ihre dunklen Haare durcheinandergebracht, sodass diese jetzt wild abstanden und ihr ein etwas zerzaustes Aussehen gaben. Barfuß und in ihrem spitzenbesetzten schwarzen Kleid wirkte ihre zierliche Gestalt auf dem rauen Dielenboden vor dem riesigen Schrank ein wenig verloren.
Noch auf dem Weg zurück öffnete Moira die Flasche. Leise murmelnd näherte sie sich Luna.
»Ein andres kann ich,
den Erdenkindern nützt es,
die heilende Hand üben:
Es scheucht Krankheit
und die Schmerzen alle,
heilt Wunden und Weh.«
Daraufhin fing sie an, ein Lied zu singen, ebenfalls in jener uralten Sprache. Anschließend brauchte sie das Fläschchen bloß noch in die Nähe von Lunas Nase zu halten, da riss diese schon die Augen auf. Wild mit den Augenlidern flatternd, sah sie sich um.
»Was … was ist passiert?«
Sie schluckte mehrmals. »Es tut mir so leid. Ich … ich wollte nicht …«
»Luna!«, unterbrach Skadi das Gestammel. »Was sollte das? Ich hatte die dritte Strophe erst begonnen. Konzentrier dich gefälligst beim nächsten Mal, sonst schaffen wir es nie!«
Die Angesprochene senkte schuldbewusst den Blick. Dies war nicht ihr erster Fehler. Eigentlich scheiterte das Ritual sogar die meiste Zeit an ihr und bis zur Herbst-Tagundnachtgleiche war es nicht mehr lang.
Skadi seufzte und nahm ihre Hand. »Geht es dir denn wieder besser?«
Luna nickte und setzte sich ein Stück weit auf.
»Es tut mir leid. Meine Gedanken sind kurz abgeschweift. Ich bin einfach fertig, weißt du? Seit Wochen proben wir dieses Ritual und haben trotzdem noch nie mehr als diese kleine blaugrüne Flamme gesehen. Bist du sicher, dass es überhaupt funktionieren kann?«
Skadi seufzte und lächelte mild. Sie sah erst Luna an, dann die anderen
beiden. »Erinnert euch an die Worte der großen Hravan: ›Magie ist wie die rauschenden
Blätter an einem Baum. Es braucht Wind dafür.‹ Wir sind der Wind! Um wehen zu können, brauchen wir jedoch Übung. Viel Übung. Außerdem werden wir das wahre Feuer erst sehen, wenn die Tagundnachtgleiche gekommen ist. Nur dann wird es richtig funktionieren. Was sagte Hravan? Das Tor zwischen den Welten sei bereits vor zweitausend Jahren beschworen worden und niemand hat es je geschlossen. Also ist es überall dort, wo die Scheibe ist. Wir müssen das Ritual bloß ausführen, um es sichtbar zu machen und durchgehen zu können. Genügend Energie dafür gibt es nun mal nur diese zwei Mal im Jahr zu den Tagundnachtgleichen. So hat sie es uns doch erklärt, oder nicht?«
Fragend sah Skadi eine nach der anderen an.
»Sie sagte uns außerdem, dass wir es vergleichsweise leicht hätten. Das Tor überhaupt zu öffnen, das war der wirklich schwierige Teil. Blut und Opfer haben sie erbracht. Davon bleiben wir verschont. Alles, was wir tun müssen, ist, die Energie im exakt richtigen Moment zu beschwören. Wir werden nur diese eine Chance bekommen, sonst liegt ein weiteres halbes Jahr Wartezeit vor uns. Deshalb muss unser Ritual perfekt sein. Die ganze Arbeit war umsonst, wenn es uns nicht gelingt, Malcolm und
die anderen punktgenau ins Jahr 9 zu schicken.«Moira warf Skadi einen zweifelnden Blick zu.
»Aber selbst Hravan hat es nicht geschafft, Leon und Armin Hollerbeck beim zweiten Feuerritual ins richtige Jahr zu bringen. Wie sollen wir das dann schaffen?«
Ein leichtes Zittern überlief sie jetzt, woraufhin sie heftig nieste. Skadi blickte sie entsetzt an. Krankheitsbedingte Ausfälle waren das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnte.
»In Ordnung, wir machen eine Pause. Wärmt euch auf, trinkt einen heißen Tee. Wir treffen uns gleich noch mal am Altar. Und ab morgen liegen draußen ein paar Matten aus. Oder du ziehst dir Schuhe an, Moira. Und was Hravan angeht: Vergesst nicht die Situation, in der sie sich damals befand. Armin Hollerbeck wollte alles in die Luft jagen, anschließend der Kampf zwischen ihm und Leon. Beide sind praktisch erst in letzter Sekunde durch das Feuer gegangen, die ganze Lage war unüberschaubar.«
»Ich hole die Scheibe herein«, brach Viola jetzt erstmals ihr Schweigen. »Und Lunas Stab.«
Skadi nickte und sah der düsteren, stets mürrisch dreinblickenden Frau hinterher. Viola war die Älteste von ihnen und ebenso verbissen von der Sache überzeugt wie Skadi. Sie würde buchstäblich über Leichen gehen, um ihre Mission erfüllt zu sehen: den feigen Mord an Arminius im Jahr 21 zu verhindern und so seine Vision eines großgermanischen Imperiums wahr werden zu lassen. Keine Romanisierung und folglich keine Christianisierung des Abendlandes. Der Fortbestand der alten Religion, der alten Sitten und Bräuche, der alten Kultur.
Die Himmelsscheibe unbewacht draußen zu lassen, war tatsächlich viel zu riskant. All ihre Anstrengungen wären umsonst, würde ihnen das Artefakt gestohlen.
»Dass Hravan es bei dem Durcheinander damals überhaupt geschafft und die beiden nicht versehentlich ins Mittelalter geschickt hat, ist wirklich mehr als erstaunlich«, sagte Moira augenzwinkernd, während sie Luna eine Decke um die Schultern legte. »Es zeigt, wie mächtig sie ist. Deswegen habe ich auch Vertrauen, dass wir es schaffen können. Natürlich nur, wenn wir uns bemühen!«
Skadi warf Luna einen weiteren strengen Blick zu. »Eine Lehrmeisterin wie sie ist ein Wink der Götter. Wir dürfen es nicht vermasseln! Wir sind auserwählt. Das Leben des Nadarwinna hängt von uns ab. Der Kampf gegen die römischen Eindringlinge ist noch nicht verloren. Hier und heute, mehr als zweitausend Jahre später, fechten wir ihn immer noch aus.«
»Wenn es Malcolm gelingt, die restlichen Schriftrollen zu besorgen, wissen wir mehr«, bemerkte Moira. Schwungvoll schleuderte sie die Haare zurück und bleckte die Zähne. »Wir könnten sie analysieren und Malcolm sowie den anderen ganz genau sagen, was sie erwartet. Sicherlich enthalten sie auch Hinweise auf Arminius’ Mörder.«
»Ja, davon können wir ausgehen«, bestätigte Skadi. »Der gute Leon hat die Dinge so penibel dokumentiert, dass alles andere schon ein verfluchtes Pech wäre.«
Sie seufzte.
»Allerdings ist die Zeit so knapp, dass kaum noch Hoffnung besteht. In fünf Tagen ist die Tagundnachtgleiche. Wir sind längst noch nicht gut genug für das Ritual, haben viel zu üben. Selbst wenn es Malcolm heute gelingt, die Schriftrollen zu entwenden, bleibt uns zu wenig Zeit, sie zu studieren und einen Plan zu entwickeln. Malcolm muss jetzt in die Vergangenheit geschickt werden! Vielleicht können wir im Frühling noch jemanden hinterherschicken mit weiteren Informationen. Aber falls einem von uns etwas zustoßen sollte … Nein, es ist einfach zu riskant. Wir dürfen nicht warten! Alles könnte umsonst sein, wenn wir diese Chance nicht nutzen. Die Scheibe könnte gestohlen werden oder einer Katastrophe zum Opfer fallen. Malcolm und seine Leute sind ausgebildet und bis an die Zähne bewaffnet. Je früher wir sie losschicken, um Arminius gegen seine Feinde zu beschützen, desto besser.«
Skadi half Luna auf. »Geht es?«, fragte sie mitfühlend.
Noch etwas wackelig auf den Beinen machte Luna ein paar Schritte.
»Ich denke schon. Lasst uns zum Altar gehen.«
Die drei Frauen folgten Skadi auf den Flur hinaus. Vor einer doppelflügeligen dunklen Holztür blieben sie stehen. Auf einem kleinen Vorsprung stand ein Schälchen mit Wasser, das einen frischen Duft nach Melisse und Lavendel verströmte. Alle drei tauchten ihre Hände kurz hinein und wuschen sich. Danach öffnete Skadi die Tür zum Altarraum. Dieses war im Grunde bloß ein großes leeres Zimmer, an dessen Kopfende die lebensgroße steinerne Statue eines Stammeskriegers emporragte.
Mit der linken Hand umklammerte die Figur Schild und Speer, mit der rechten ein Gewehr. Auf dem Schild war ein Hirsch abgebildet. Ein breites Stirnband hielt ihm die sorgfältig modellierten langen Haare aus dem verwegen und grimmig blickenden Gesicht. Der Oberkörper war von einem Kettenhemd bedeckt, unter dem ein hemdartiger Kittel bis zu den Oberschenkeln hinabreichte. Enge Hosen umschlossen die kräftigen Beine und endeten in etwa kniehohen Schaftstiefeln. Ein wehender Umhang umhüllte ihn und ließ Tatkraft erkennen. Auf dem Sockel war in großen Lettern eine Inschrift zu lesen:
»Einer ragte durch den Ruhm seiner Taten über alle hinaus. Er verteidigte die unterdrückte Freiheit vor den Eindringlingen. Er starb, den Auseinandersetzungen derer geopfert, die ihn beschützen sollten. Die bedeutende Zierde der Cherusker – Arminius«
Die drei Frauen knieten sich auf den hölzernen Dielenboden, der bei jeder ihrer Bewegungen knarrte. Sie beugten ihre Köpfe vor der Statue und fingen leise, jede für sich, an zu beten. Plötzlich rumpelte es in der Diele, als eine Tür aufgestoßen wurde. Sie unterbrachen ihr Gebet und schauten auf. Wenige Augenblicke später stand Viola im Türrahmen des Altarraums, leicht außer Atem, mit ernstem Gesichtsausdruck. Sie war bis auf die Haut durchnässt, hielt aber die Himmelsscheibe unter ihrem Arm und fest an ihren Körper gepresst.
Respektvoll wartete sie ab, bis Skadi, Luna und Moira sich erhoben hatten. »Ich glaube, Malcolm kommt zurück«, sagte sie. »Ich habe Scheinwerferlicht in der Einfahrt gesehen.«
»Wir sollten ihm entgegengehen«, beschloss Skadi. »Ich hoffe, er hatte Erfolg.«
Skadi wandte sich ein letztes Mal der Arminius-Statue zu, dann verließen sie alle den Raum. Ihre Aufgabe würde um so vieles leichter sein, wenn sie sich mit Hilfe der Schriftrollen zumindest ein wenig vorbereiten konnten.